Eine Ausstellung im Staatsarchiv zeigt NS-Verbrechen in der Stadt und die Problematik des Fotomaterials.
Dieses Treiben ist unmenschlich. Die Köpfe der beiden Frauen sind kahl geschoren, sie blicken zu Boden. Um ihren Hals hängen große Schilder mit der Aufschrift: „Ich bin eine ehrlose Frau.“ Das Bild zeigt den Spießrutenlauf zweier Ludwigsburgerinnen im Juni des Jahres 1941 durch die Stadt – vor den Augen der Bürger. Ihr Fehler: Beide hatten sich mit einem Kriegsgefangenen eingelassen – eine Straftat in Nazi-Deutschland, die als „Rassenschande“ bezeichnet wurde. Außer mit dieser öffentlichen Demütigung wurde das Vergehen auch mit einer Gefängnisstrafe geahndet. Diese Geschichte ist ein Beispiel für den Psychoterror des NS-Regimes, vor dem – wie das Beispiel der beiden Ludwigsburgerinnen zeigt – auch Deutsche nicht verschont worden sind. Unter dem Titel „Vor allen Augen“ zeigt das Ludwigsburger Staatsarchiv in seiner neuesten Ausstellung diesen eher unbeleuchteten Aspekt der Schandtaten der Nazis.
Die Ludwigsburger Verantwortlichen wollen aber nicht nur Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz und vor der Haustür ausstellen, sondern auch die Zuordnungsproblematik von archiviertem Bildmaterial zeigen. Wer hat das Foto gemacht, warum wurde es geknipst, wie gelangte es ins Archiv – dies sind Fragen, die für eine korrekte Interpretation des historischen Materials notwendig sind. Das sei kein einfaches Feld, sagt Peter Müller, der Leiter des Staatsarchivs. „Deshalb wollen wir mit der Ausstellung auch das quellenkritische Problem verdeutlichen.“ Dafür sind Zusatzinformationen geplant, die erklären sollen, wie solche historischen Bilder interpretiert werden.
So finden sich neben den Fotos auch Briefe, Zeugenaussagen oder andere Dokumente, die einen Rückschluss auf die Herkunft des Fotomaterials ermöglichen. Da ist beispielsweise in einem Brief eines deutschen Soldaten an seine Familie zu lesen, dass er über den Massenmord an den Juden Bescheid wisse, diesen auch befürworte und seine Liebsten die mitgeschickten Fotos doch bitte aufbewahren mögen. Einerseits, erklärt Peter Müller, verdeutlicht dieser Brief, dass die Bilder vom Soldaten selbst stammen, andererseits lässt sich daraus auch das Motiv für die Fotografie ableiten, das für die richtige Interpretation wichtig ist: Die Bilder wirken wie eine Art Trophäe des Wehrmachtssoldaten. Auch ein Austausch solcher Fotos sei innerhalb des Militärs üblich gewesen, sagt Müller.
Im Ludwigsburger Staatsarchiv verbergen sich in Hunderttausenden von Akten weitere Fotodokumente, die mehr oder weniger zufällig auftauchen könnten, weil eine gesonderte Recherche aus Kapazitätsgründen bisher nicht möglich gewesen sei, wie der Leiter erklärt: „Einige Bilder sind erst vor zwei Wochen ans Tageslicht gekommen. Heute werden die Fotos aber sofort eingescannt.“ Die Bilder stammen zum Beispiel von Gerichten oder Finanzbehörden. Diese sind Müllers Angaben gesetzlich dazu verpflichtet, das Material an das Staatsarchiv zu übergeben. Entweder wenn die Dokumente nicht mehr benötigt würden oder spätestens nach 30 Jahren.
Einen Einblick in diesen Fundus können die Besucher nun bis zum 22. Juli im Erdgeschoss des Staatsarchivs am Arsenalplatz nehmen. Die Wander- und die Begleitausstellung informieren auf eindringliche Weise über die nationalsozialistischen Verbrechen in der Stadt – illustriert mit Bildern von Privatpersonen, Pressefotografen, Lehrern oder Parteimitgliedern und unterfüttert mit erläuterndem Zusatzmaterial. Dank dieser Mischung haben die Anschauungsstücke mehr als lediglich einen visuellen Informationswert.
Denn nur das Protokoll einer Zeugenaussage sowie zwei Briefe machen deutlich, was den beiden Ludwigsburgerinnen im Juni anno 1941 geschehen ist – warum sie gedemütigt worden und wer den Vorfall zu verantworten hat.
veröffentlicht in der Stuttgarter Zeitung (17. März 2011)
Kommentare