Die tollsten Tore fallen im Ramadan _Hockeybundesligist Belal Enaba im Interview

26 07 2009

SportSirene: Herr Enaba, was bedeutet Ihr Glaube für Sie? Belal Enaba: Ich glaube an Gott, an den Koran und an unseren Propheten Mohammed. Alle drei sind wichtig für uns Moslems. Der Koran kommt von unserem Gott über Mohammed zu uns. Daher muss man ihn lesen, davon lernen und ihn befolgen.

Ist es ein Muss, den Geboten des Korans Folge zu leisten? Der Koran ist ein sehr langes Buch, und es gibt sehr viele Vorgaben, die jeder für sich interpretiert. Ich bin der Meinung, dass ich meine Interpretation befolgen muss.

Sie halten sich also auch an die Vorgaben des Ramadan. Was sind die Folgen für das tägliche Leben? Für mich ist die Arbeit im Ramadan viel leichter. Ich muss heute keine große Leistung mehr erbringen, weil ich schon seit dem zwölften Lebensjahr faste. Ich habe immer gefastet, egal ob ich Sport getrieben habe oder nicht.

Warum leben Sie nach den Vorgaben des Ramadan? Weil der Körper gereinigt wird. Magen und Herz müssen elf Monate im Jahr arbeiten. Im Ramadan können die Organe einmal Pause machen. Ich denke, dass das gesund ist, weil man sich erholt und sich gut fühlt. Außerdem ruht sich die Seele aus. Wir müssen während des Ramadan öfters als normal beten (ein gläubiger Moslem betet fünf Mal am Tag, d. Red.) und können dadurch intensiv in uns gehen. Man ist insgesamt ausgeglichen.

Der Ramadan ist aber auch ein Monat der Gemeinschaft. Genau. Wir essen zusammen mit der Familie und gehen mit Freunden in die Moschee. Es macht sehr viel Spaß. Und alle sind immer freundlich und gut gelaunt.

Hält Ihre gute Laune auch in der Halbzeitpause an, wenn Ihre Mannschaftskameraden etwas trinken dürfen – Sie aber nicht? Wenn ich während des Ramadan Sport treibe, denke ich nicht ans Trinken. Außerdem weiß ich, dass ich abends schon wieder etwas zu mir nehmen kann. Es mag komisch klingen, aber mir macht es immer sehr viel Spaß, im Ramadan Sport zu treiben …

…und sich nur nach Sonnenunterund vor Sonnenaufgang zu ernähren? Ja, da muss man ehrgeizig sein. Vor dem ersten Beten um fünf Uhr esse ich etwas und trinke sehr viel. Außerdem nehme ich Vitamine zu mir und Süßigkeiten, um Zucker im Blut zu haben. Nach dem Gebet schlafe ich nochmals bis neun Uhr. Nach Spielende bin ich dann sehr müde, das muss ich zugeben. Ich denke aber nicht daran, sondern dusche, bete und lese im Koran. Wenn die Sonne kurz nach dem Spiel untergeht, trinke ich viel und esse nur ein paar Süßigkeiten – weil es ungesund ist, auf einmal viel Nahrung in sich reinzustopfen. Gegen später esse ich dann ein ausgiebiges Abendbrot

Sie sind sehr diszipliniert, was die Ernährung anbelangt. (lacht) Ja, aber nur im Ramadan.

Merken Sie Leistungsunterschiede, wenn Sie fasten? Ich habe meine größten Leistungen und Spiele im Ramadan gemacht. Ich bin sehr konzentriert. Ich denke nicht ans Essen, nicht an meine Freundin, sondern nur ans Beten, den Koran und das Spiel.

Das Fasten befl ügelt Sie also und Sie fi nden es sinnvoll? Ja. Ich schieße meine schönsten Tore immer im Ramadan. Es ist schwer für die Leute zu verstehen, wie man Sport ohne Trinken und Essen treiben kann – aber es geht. Beim Gladbacher HTC sind meine Kameraden sehr nett und haben überhaupt kein Problem damit. Die Schürings, bei denen ich in Deutschland wohne, sind wie eine zweite Familie für mich. Sie geben mir gerade im Ramadan eine unglaubliche Atmosphäre.
Ich war überrascht, dass sie mir nicht gesagt haben, „Belal, du musst was essen, du hast ein wichtiges Spiel“. Sie unterstützen mich
genauso wie mein Team.

Auch soweit, dass die Schürings oder andere Spieler selbst fasten? Meine Mannschaftskameraden haben einmal zu mir gesagt, dass sie mit mir fasten wollen. Das war ein schönes Gefühl für mich. Ich finde es toll, dass sie versuchen, sich in mich hineinzuversetzen. Und für sie ist es viel schwieriger zu fasten, weil sie es nicht gewohnt sind.
Wie finden Sie es, wenn sich andere Moslems hierzulande nicht an die Ramadan-Vorgaben halten? Ich akzeptiere alles – die Christen, die Juden, die Moslems. Ich will im Leben niemandem vorschreiben, was er tun soll und was nicht. Aber für mich ist der Monat Ramadan wichtig, und daher faste ich. In Ägypten sagen einige Imame (Imam: der muslimische Vorbeter …, d. Red.) zu den Profis, dass sie den Ramadan verschiebenkönnen, aber das gibt es bei mir nicht…

…obwohl Sie der einzige Moslem beim Gladbacher HTC sind. Wäre es nicht leichter zu fasten, wenn Sie muslimische Kollegen hätten? Das ist mir eigentlich egal, aber letztes Jahr waren zwei ägyptische Spieler während des Ramadan zu Besuch. Das war ein sehr schöner Fastenmonat, weil wir zusammen gefastet, gebetet, gelesen und dann gefeiert haben.

Ist es in der Nationalmannschaft leichter, während des Fastenmonats zu spielen? Bei uns hier in Ägypten ist es ganz einfach, weil alle Moslems sind. Und zudem spielen wir erst abends nach dem Essen Hockey.

Der Glaube hat also in muslimischen Ländern auch Spielverlegungen zur Folge? Ja, wegen des Ramadan werden Spiele nach hinten verlegt.

Haben Sie mit dem ägyptischen Nationalteam aufgrund der Leistungsminderung durch das Fasten schon einmal eine Partie verloren? Unsere Niederlage gegen Südafrika bei den „Asian Games“ in Indien im Oktober 2003 wird hier oft erwähnt. Wir sind zehn Minuten vor Schluss eingebrochen, haben zwei Tore bekommen und anschließend in der Verlängerung mit 2:3 verloren. Wir haben das Spiel jedoch analysiert. Und es hat sich gezeigt, dass individuelle Fehler in der Verteidigung ausschlaggebend waren. Es hatte nichts mit dem Ramadan zu tun. Außerdem habe ich ein sehr schönes Tor gegen Südafrika geschossen.

Das Toreschießen während des Ramadan scheint Ihnen zu liegen? (lacht) Ja. Die Bundesliga sollte immer im
Ramadan sein.

Dürfen Leistungssportler in muslimischen Ländern das Fasten unterbrechen? Im Koran steht nicht genau geschrieben, wann man Ausnahmen machen darf. Einige Imame sagen, dass Leistungsport eine Ausnahme ist. Diese Leute haben meistens aber keine Ahnung von den Muskeln, dem Blut und dem Körper im Allgemeinen. Ich denke, dass Sport keine besondere Ausnahme darstellt. Moslems, die nicht fasten und dafür keinen guten Grund haben, stehen in keinem guten Kontakt mit Gott.

Die Entscheidung liegt also bei jedem Einzelnen. Aber es wird doch kritisiert, wenn man sich als Sportler nicht an die Ramadan-Vorgaben hält. Ja, aber ich selbst will keinen kritisieren, weil das jedem seine eigene Entscheidung ist. Ich bin auch keinem böse, würde es persönlich nur anders machen.

Hatten Sie schon einmal gesundheitliche Probleme aufgrund des Sporttreibens im Ramadan? Nein, das hatte ich nicht.

Sie sagten vorhin, dass Sie Ihre schönsten Tore im Ramadan schießen. Welches war das tollste Tor Ihrer bisherigen Karriere? Ich weiß zwar nicht, ob die Deutschen jetzt sauer sind, aber das wichtigste Tor in meinem Leben war bei den Olympischen Spielen in Athen gegen Deutschland. Zur Halbzeit stand es 1:1 – ich hatte den Ausgleich erzielt. Dann hat Deutschland Gas gegeben und wir haben 1:6 verloren. Trotzdem war der 1:1-Treffer mein wichtigstes Tor.

Das war aber nicht im Ramadan. (schmunzelt) Das stimmt, aber es war auch nicht der schönste Treffer, sondern der wichtigste. Das schönste Tor habe ich in der Bundesligasaison 2005/2006 beim Großflottbeker THGC geschossen. Alle waren essen – ich durfte ja nicht, weil Ramadan war – und ich habe meinen Gebetsteppich neben dem Platz ausgelegt und gebetet: „Bitte Gott, hilf mir. Heute ist ein wichtiges Spiel. Und ich möchte gut spielen.“ Ich habe in dieser Partie zwei unglaubliche Tore geschossen. Ich verstehe bis heute nicht, wie das funktioniert hat. Der erste Schlagschuss ging an der Torauslinie entlang und ist dann durch einen Windstoß ins Tor gefl ogen. Selbst der Schiedsrichter dachte sich: Was läuft hier? Er hat dann aber das Tor dennoch gegeben. Beim zweiten Treffer habe ich den Ball aus 17 Metern ganz hoch über den Keeper ins Tor gelupft. Das waren die schönsten Tore meines Lebens – und die waren im Ramadan.

Fragen von Fabian Schmidt veröffentlicht im Magazin Sportsirene (1, Januar 2008)





Kein Brot und dennoch Spiele _Die Leistung muslimischer Sportler im Ramadan

26 07 2009

Dschihad, Glaubenskampf, Krieg der Religionen. Wir stellen in der Rubrik „Glaube“ einmal nicht den Glaubenskonflikt in den Mittelpunkt. Viel spannender ist der Doppelpass zwischen Sport und Glaube auf dem Spielfeld. Inwiefern werde ich als Sportler von meiner Religion beeinfl usst? Blicken wir zu den Moslems, die hierzulande in Sportvereinen spielen, so fällt uns unter dem Begriff Leistung ein sehr interessanter Punkt auf: Wie schafft es der Mannschaftskamerad eigentlich, so schnell und so viel zu laufen, wenn er doch tagsüber gar nicht essen und trinken darf? Wir alle kennen das Gefühl, wenn sich mit zunehmender Dauer der sportlichen Leistung der Magen zuschnürt, weil man nicht so viel zu sich genommen hat, oder wie in der Halbzeitpause um die Sprudelfl aschen gerungen wird. Wir kommen früher oder später an die Reihe, gläubige Moslems werden aber nichts trinken, weil sie sich an die Vorschriften des Ramadan, des islamischen Fastenmonats, halten. Die SportSirene hat mit muslimischen Sportlerinnen und Sportlern über ihren Glauben und die Folgen für das tägliche Leben während des Fastenmonats Ramadan gesprochen.

Vor dem Eingang der Religionsgemeinschaft (RG) Islam Baden-Württemberg in Stuttgart stehen Leitern, Schaufeln und ein Zementmischer auf schmierigem Boden – kein schöner Anblick. Als uns Ali Demir, Vorsitzender der Gemeinschaft, jedoch herein in die Gebetsstube bittet, ändert sich das Bild schlagartig: Überall warme Teppiche, gemütliche Sofas sowie viele Bücher. Er serviert uns türkischen Tee und Kekse. Demir gründete die RG Islam Baden-Württemberg 1992, die sich selbst die Aufgabe stellt, muslimische Belange in der Gesellschaft zu vertreten. Ein freundliches Lächeln ziert das Gesicht des Islamkenners. Demir spricht überzeugt und dennoch gelassen über seine Religion. Der Koran ist die maßgebliche Quelle für Glauben und Lebensgestaltung der Muslime. Die zweite Quelle ist der vorbildhafte Lebensweg des Propheten Mohammed, der in der Sunna (Weg) festgehalten ist. Der Fastenmonat Ramadan ist eine der fünf Säulen oder auch Grundpfl ichten des muslimischen Glaubens. Daneben stehen der Glaube an nur einen Gott, das Gebet, die Sozialabgabe – zakat genannt – sowie die einmalige Pilgerfahrt nach Mekka.

„In der Fastenzeit sollen die Menschen nachsinnen, Selbstbeherrschung praktizieren und ihrem Trieb eine Grenze setzen“, sagt Demir, „angefangen bei der Nahrung bis hin zur Sexualität.“ Jeder Moslem soll allen Lebewesen und Mitmenschen mehr Beachtung schenken. Dies sei aber nur ein Ratschlag Gottes, jeder müsse selbst entscheiden, ob er faste oder nicht. Glaube ist für die islamische Welt eine Sache zwischen dem einzelnen Menschen und Gott. Dazu gibt es Ausnahmesituationen, in denen Muslime vom Fasten „befreit“
sind: Schwangere, Kranke, Ältere und Kinder sind Beispiele dafür. „Man kann jedoch auch nachfasten, wenn man beispielsweise eine schwere Arbeit erledigen muss“, sagt Demir, „aber bei uns wird keiner diskriminiert, wenn er nicht fastet.“

Sport kann auch als harte Arbeit gesehen werden und daher zu den
Ausnahmen zählen. Das Problem ist jedoch, dass gerade bekannte Sportler eine Vorbildfunktion haben. „Das ist in der Tat eine Konfl iktsituation“, stimmt Demir zu. Sie stehen daher unter einem gewissen Gruppenzwang – vor allem in der islamischen Welt. „Religiosität sollte aber eigentlich nicht der Maßstab für sportliches Verhalten sein, sondern eher im Hintergrund bleiben“, meint Demir. „Viele Menschen sind sehr engstirnig. Die Beachtung von Äußerlichkeiten, wie der Einhaltung des Ramadan, ist in der  Gesellschaft viel zu Auch wenn es eine Äußerlichkeit ist, fühlen sich Muslime oft verpflichtet, im Ramadan zu fasten. Sportlern verlangt die Enthaltung eine noch größere Leistung ab. Atika Bouagaa schmetterte von

2005 bis Ende 2007 beim USC Münster in der ersten Volleyballbundesliga. Die 25-jährige Deutsche mit tunesischen Eltern bricht das Fasten, wenn sie Sport treibt. „Ich versuche, es an meinen freien Tagen nachzuholen“, sagt die deutsche Nationalspielerin, „aber das ist eigentlich nicht so, wie es sein sollte.“ Die Einhaltung des Fastens ist für Bouagaa schwierig, obwohl sie es ja eigentlich will. Die Volleyballerin macht jedoch nicht den Leistungssport als Ursache dafür aus, sondern eher ihre mangelnde Hartnäckigkeit. Bouagaa entschuldigt sich auch nicht damit, dass sie in einem nicht-muslimischen Land lebt, „denn Glaubenssache hat nichts mit anderen zu tun, das liegt nur an mir.“ Wobei sie auch erwähnt, dass es in Tunesien leichter ist, weil dort alle fasten. Die Außenangreiferin scheint sich selbst den Vorwurf zu machen, dass sie das Fasten nicht durchhält. „Ich gebe dafür Almosen an Bedürftige“, sagt sie, „aber eigentlich ist das kein Ausgleich.“ Muslime in der westlichen Welt können im Sport nicht alle religiösen Regeln einhalten, weil sie oft die Einzigen in ihren Teams sind. Ein Beispiel ist das Tragen von Kopftüchern oder langärmliger Sportkleidung. Bei der Volleyball-Weltmeisterschaft 2006 in Japan hat die komplette ägyptische Mannschaft mit Kopftuch gespielt – aber nur, weil ein komplettes islamisches Team auflief, und nicht lediglich eine Einzelspielerin.

Gül Keskinler, Integrationsbeauftragte des Deutschen Fußball-Bundes (DFB), macht zudem die Gewohnheit, in einem neuen Land zu leben, als Grund für die Nichteinhaltung der Religionsregeln aus. „Sportler, die sich hierzulande etabliert haben, tun dies oft auch mit den Regeln“, sagt Keskinler, „sie müssen die ganze Woche ihre Leistung erbringen, weil sie Geld verdienen müssen. Daher ist das Fasten schwierig.“ Atika Bouagaa hält Fasten und gleichzeitiges Sporttreiben jedoch für sinnvoll: „Wenn du an Gott glaubst, haben die Pfl ichten für dich einen Sinn. Wenn Gott sagt, dass es gut ist, dann siehst du das auch so.“

Rachid Azzouzi, Ex-Fußballbundesligaspieler vom MSV Duisburg, ist derzeit Teammanager bei der Spvgg Greuther Fürth. Auch er glaubt an den Koran und ist religiös erzogen worden – jedoch mit
einer gewissen Freiheit: „Ich bin nicht so versessen und verbissen, alles, was im Koran steht, auch zu befolgen“, sagt Azzouzi. „Jedoch steht hinter dem Fasten eine gute Idee, und daher hilft das dem einen
oder anderen mit Sicherheit.“ Ein Fastender soll fühlen, wie es den Armen geht, die nichts zu Essen und Trinken haben. Azzouzi selbst hat während seiner aktiven Karriere in Deutschland nicht gefastet. Mit der marokkanischen Nationalmannschaft hat er die Ramadanvorgaben jedoch eingehalten. „Die Leistungsfähigkeit leidet darunter. Das ist in muslimischen Ländern nicht so schlimm, weil es dort alle machen. Aber in europäischen Ligen benachteiligt man sich selbst gegenüber den anderen“, meint Azzouzi. Daher versuchen arabische Länder, die Spiele später anzusetzen, damit die Kicker vor der Partie etwas zu
sich nehmen können.

Es gibt jedoch auch in Deutschland Sportler – beispielsweise Jaouhar Mnari (Fußballprofi beim 1. FC Nürnberg) oder der Gladbacher Hockey-Bundesligaspieler Belal Enaba (s. Interview-Post, 26.7.09) – die sich an das Fasten halten. „Das ist wirklich ehrenwert“, sagt Rachid Azzouzi, „es ist nicht einfach, seine Leistung zu halten, wenn man nichts isst und trinkt.“ Dass er nicht gefastet habe, weil er Angst hatte, nicht aufgestellt zu werden, verneint Azzouzi. Auch die Trainer von Atika Bouagaa haben niemals mit einer Nichtaufstellung gedroht, „obwohl man schon etwas geschwächter ist, wenn man fastet“, wie Bouagaa zugibt. „Ich fi nde es nicht gut, wenn Leistungssportler die Ramadanvorgaben brechen“, hält Fußballer Bashiru Gambo von den Stuttgarter Kickers entgegen, „außer es geht körperlich nicht.“ Der 29-jährige Mittelfeldspieler kam mit 16 Jahren aus Ghana zu seinem „Traumverein“ Borussia Dortmund – Trainer Michael Skibbe hatte ihn bei einem U16-Turnier entdeckt und zum BVB geholt. Für Gambo war die Umstellung damals sehr schwierig: „Hier musste ich allein fasten, das war anfangs schwer.
Außerdem habe ich zum ersten Mal Schnee gesehen.“ Er hat daraufhin seine Mutter angerufen, um bei ihr Trost gegen das Heimweh zu fi nden. „Aber alle haben mich hier unterstützt. Auch meine Trainer. Sie haben immer akzeptiert, dass ich den Ramadan einhalte – und zwar den ganzen Monat.“ Die Nummer zehn der Stuttgarter Kickers argumentiert mit beiden Händen in den Hosentaschen, wirkt dabei offen und nachdenklich zugleich. Es ist die erste Woche nach den dreitägigen Ramadanfeierlichkeiten – „Eid al Fitr“ – zum Abschluss des Fastenmonats und Gambo ist ein wenig erleichtert. „Ich bin froh, wenn das Fasten vorbei ist. Es ist sehr hart und Sport macht in dieser Zeit keinen Spaß“, schnauft er jetzt noch, „wenn ich zweimal am Tag trainiere, dann bin ich danach fast tot.“ Da hatte er es vor allem bei Ex-Kickers-Coach Peter Zeidler gut: Dieser gab Gambo während der Fastenzeit öfters mal frei. An Spieltagen nimmt der überzeugte Moslem aber Nahrung zu sich. Das ist auch sinnvoll, denn ohne Nährstoffe ist es nicht möglich, die volle Leistung abzurufen. „Das verpasste Fasten hole ich dann aber sofort nach“, wirft Gambo blitzschnell ein.

Auch PD Dr. med. Martin Huonker, Vorsitzender der Sportärzteschaft Württemberg e.V., schließt eine  leistungsmindernde Komponente durch das Fasten nicht aus. „Wenn ein Sportler während des Sports mehr als drei Prozent des Körpergewichts an Flüssigkeit verliert, dann kommt er in die Leistungsminderung“,
sagt Huonker. Voraussetzung ist jedoch ein ausgeglichener Flüssigkeitshaushalt vor der Belastung, damit die Minderung nicht schon früher einsetzt. Wenn ein Moslem also fastet, sollte er seinen Flüssigkeits- und Energiehaushalt stets über Nacht ausgleichen. Kommt ein Sportler in ein Flüssigkeitsdefi zit von vier bis fünf Prozent des Körpergewichtes, kann es vital bedrohlich werden. „Bei Hitze kann ein solches Defi zit bereits bei einer Belastungszeit von unter zwei Stunden auftreten. Ein Sportler bekommt beispielsweise bei
einem Marathonlauf – ohne während des Wettkampfes zu trinken – erstens Leistungsprobleme und geht zweitens ein gesundheitliches Risiko ein“, sagt Huonker, der die deutsche Triathlonnationalmannschaft
sportärztlich betreut. Neben einer allmählichen Hitzeerschöpfung, die zu einer Wettkampfaufgabe zwingt, besteht die Gefahr des plötzlichen Hitzschlags. Es folgt dann ein rasches Versagen der Thermoregulation mit einem Anstieg der Körperkerntemperatur auf über 41 Grad Celsius – ein Zustand der lebensbedrohlich ist. „Wird aber während eines Fußballspiels in der Halbzeitpause getrunken, kann sowohl der  Hitzeerschöpfung als auch dem Hitzschlag vorgebeugt werden“, fügt Huonker hinzu.

Bashiru Gambo ist sich der Gefahr bewusst und rät daher: „Wenn du beispielsweise Kopf- oder Bauchschmerzen hast, musst du sofort mit dem Fasten aufhören. Es ist nicht sinnvoll, ein gesundheitliches Risiko einzugehen.“ Während er in der Trainingspause am Spielfeldrand des Stuttgarter Gazi-Stadions entlangschlendert, führt er aber mit Nachdruck fort, dass das Verpasste nachgeholt werden muss, und seine Augen sind dabei weit aufgerissen. Die Überzeugung des kleinen Ghanaers ist förmlich spürbar und spiegelt sich auch in seinen Gebeten vor jedem Spiel wider. „Mein Glaube beflügelt mich und hat mir auch in der schwierigen Anfangszeit in Deutschland geholfen“, erklärt Gambo und fasst sich dabei an die Brust, als wolle er es mit dem Herzen sagen. Der Koran leitet den ehemaligen Jugendnationalspieler Ghanas durch sein Leben und unterstützt ihn darin.

Yasin Bozak spielt in der Fußball-Kreisliga A beim SV Pfrondorf im Bezirk Alb. Er befolgt seit seinem fünften Lebensjahr die Vorgaben des Ramadan. „Im Sport ist es schwer, das Fasten durchzuhalten. Aber ich beiße in den sauren Apfel und ziehe es durch“, sagt Bozak, „außerdem geht es während des Wettkampfes eigentlich ganz gut.“ Auf dem Platz schüttet er sich immer mal wieder Wasser über den Kopf. Sicherlich sei die Enthaltung schwer – vor allem, wenn die Mannschaftskameraden etwas trinken – „aber ich motiviere mich dann, indem ich an die armen Menschen denke, die nichts zu trinken haben.“ Sein Glauben geht Yasin Bozak über alles. Dennoch hat er weder ein Problem mit anderen Glaubensrichtungen („Ich habe auch schon christliche Kirchen besucht“) noch mit Moslems, die während des Ramadan nicht fasten. Bozak versteht Profi spieler, die sich nicht an das Fasten halten. „Es ist natürlich als Profi schwierig, weil der Verein gewissermaßen Druck erzeugt“, sagt Bozak, „da muss man sich das schon gut überlegen und an die Zukunft denken.“ Er selbst würde jedoch versuchen, den Ramadan zu befolgen, „denn es steigert den Ehrgeiz und man wird dadurch persönlich stärker.“

Auch Bashiru Gambo fi ndet, dass der Ramadan die Disziplin fördert und den Menschen für das Leben lehrt. Er erzählt aber auch von den schönen Feierlichkeiten der Fastenperiode: „In Ghana ist das Ende ein richtiges Fest, wie eine Party in einem Club. Wir singen, tanzen, essen und feiern. Das macht viel Spaß.“ Seine Tochter ist sechs Jahre alt und auch sie wird – wenn sie zwölf ist – mit dem Ramadan beginnen. Sollte sie einmal Leistungssportlerin werden, wird Gambo sicherlich versuchen, sie beim Fasten zu unterstützen.

Auch der Prophet Mohammed war selbst ein begeisterter Sportler. „Er hat vielfach an Laufwettbewerben teilgenommen, das Ringen geliebt und sich im Pfeil- und Bogenschießen geübt“, sagt Ali Demir von der RG Baden-Württemberg. Er hat natürlich das Fasten strengstens befolgt. Inwiefern er in dieser Zeit jedoch die sportliche Aktivität reduziert hat, ist unbekannt. Das Fasten ist eine wichtige Säule im islamischen Glauben. Dass dieser in der muslimischen Welt jedoch eine größere Rolle spielt, kann man laut Demir nicht sagen: „Bei den Muslimen erscheint die Religion einfach ausgeprägter, weil die Erscheinungsbilder – wie Kleidung der Frauen oder das Beten – mehr auffallen.“ Der Ramadan selbst solle auch für Gläubige anderer Religionen einen Anstoß geben, die Gebote des Glaubens ernst zu nehmen. Es sei jedoch falsch, die Vorgaben zu erzwingen, „denn dieses Verhalten ist nicht im Sinne der Religion.“

„Das Bild der islamischen Welt ist von Staaten wie Iran und Saudi-Arabien geprägt worden“, sagt Demir, „dort ist Glauben sehr formal und jeder wird dazu veranlasst, das zu tun, was angeblich Gottes Wille ist. Das ist schlimm und falsch. Dagegen kämpft die Mehrheit der Muslime.“ Auch die Radikalität und terroristische Aktivität vieler Muslime führt der RG-Vorsitzende auf diese Problematik zurück. „Das kommt durch mangelnde Kenntnis unserer Religion“, meint Demir, „wir setzen daher auf Aufklärung.“

Oft muss der Islam herhalten, wenn in den sozial missständigen und totalitären Regimes einiger muslimischer Länder etwas schief läuft. Der islamische Glauben will den Menschen zu Toleranz und Aufgeschlossenheit erziehen. Zu dieser pädagogischen Komponente  gehört auch der Ramadan, „und dieser steht nicht im Konfl ikt mit dem Sport“, sagt Demir. Es ist also auch für Sportler möglich, den Fastenmonat Ramadan einzuhalten. Dennoch verdienen praktizierende muslimische Sportlerinnen und Sportler hohe Anerkennung. Denn die Umsetzung des Fastens erweist sich oftmals als eine schwierige Hürde, die einer besonderen Leistung bedarf.

veröffentlicht im Magazin SportSirene (1, Januar 2008)





Sprintlegende Heinz Fütterer über das Gefühl, zu fliegen und sein Treffen mit Queen Elizabeth II

26 07 2009

SportSirene: Herr Fütterer, was sind Ihre Erinnerungen an den Weltrekord über 100 Meter in Yokohama von 1954? Heinz Fütterer: Mein einziger Gegner in Japan war die Uhr. In Osaka – zwei Wochen vor dem Weltrekord – bin ich schon einmal 10,2 Sekunden gelaufen, obwohl es leicht geregnet hat. Aber da der Rückenwind 2,4 Meter pro Sekunde betrug, war der Rekord ungültig. Ich hatte jedoch Blut geleckt. In Yokohama spürte ich dann kurz vor dem Start, dass mein Akku geladen ist. Als ich den Trainingsanzug auszog, fühlte ich nicht den gewohnten kalten Hauch. Im Startblock interessierten mich nur der Startschuss und das Ziel. Ich war richtiggehend scharf. Explosiv bin ich raus gekommen, und im Lauf war ich nicht mehr der Erdanziehungskraft ausgesetzt, sondern bin gefl ogen. Als ich das Zielband durchrissen habe, wusste ich, dass ich etwas Besonderes geschafft habe …

… nämlich Jesse Owens’ Weltrekord von 10,2 Sekunden eingestellt zu haben. Genau, das war der Glanzpunkt meiner Karriere. So etwas habe ich danach nie wieder gefühlt. Und ich meine nicht den Beifall oder die Gratulation, sondern das Gefühl, gefl ogen zu sein.

War das auch Ihr größter Erfolg? Jawohl, denn der 100-Meter-Lauf war schon immer die Königsdisziplin der Leichtathletik. Das liegt auch daran, dass jeder schon einmal 100 Meter in seinem Leben gelaufen ist. Heute kommen noch 60-Jährige zu mir und sagen, dass sie auch schon 100 Meter gesprintet sind. Ich frage dann immer nach der Zeit und sage, dass das aber schon recht gut sei, und dann freuen sie sich.

Nicht nur über 100 Meter, sondern auch über 200 Meter waren Sie sehr erfolgreich. 1954 liefen Sie in Yokohama auch Europarekord. Sie galten damals als echter Kurvenspezialist, wie kam es dazu? Ich habe als Junge im Wald trainiert, und bin dabei geradewegs in vollem Tempo auf die Bäume zugelaufen. Ich bin ihnen ausgewichen, um meine Reaktion zu trainieren. Das wird man in keinem Trainingsbuch fi nden, aber mir hat es zum einen Spaß gemacht und zum anderen hat es meine Explosivität in der Kurve geschult. Ich war zudem als Kurvenmann abgestempelt. Mich hat das befl ügelt und meine Gegner hatten Angst vor mir. Beim Länderkampf gegen Polen hat der polnische Meister mal zu mir gesagt: „Du Heinz, da oben sitzen meine Braut und meine Eltern, sei in der Kurve bitte gnädig zu mir.“ So was macht dich natürlich selbstbewusst.

Ach, wir dachten, Sie hätten unterschiedlich lange Beine und seien daher so schnell in der Kurve. Das ist dummes Zeug. Ich wurde in Japan vermessen, und mein rechter Oberschenkel war durch mein Hobby Fußball dicker gewesen. Mein Freund Gerd Mehl hat das dann im Rundfunk falsch verklickert. So entstand das Gerücht.

Der „weiße Blitz“ – so wurden Sie damals genannt. Wie kam es zu diesem Spitznamen? 1953 wurde ich in den Pariser Palais des Sports zu einem Sportfest eingeladen. Dort lief ich im Endlauf gegen vier Farbige, zwei rechts und zwei links von mir, und ich gewann das Rennen. Die Zeitung schrieb am nächsten Tag: „Heinz Fütterer zuckte durch die Halle wie der weiße Blitz.“ Dieser Spitzname hat sich dann etabliert.

Waren Sie mit diesem Namen zufrieden? Naja, man hat da nicht wirklich eine Wahl. Die Presse hat diesen Spitznamen immer wieder verwendet und in der heutigen Zeit wäre das sicherlich ein riesiger Werbemagnet. Ich werde heute noch auf Ehrungen mit „der weiße Blitz“ anstatt Heinz Fütterer vorgestellt. Es gibt nur einen „weißen Blitz“ auf der ganzen Welt. Daher war das schon etwas Besonderes.

Sie sind 1954 – im Wunder-von-Bern-Jahr – zum Sportler des Jahres gewählt worden. Sepp Herberger und Fritz Walter haben Sie auf die Plätze verwiesen. Ich wusste, dass ich bei der Wahl vorne mit dabei sein werde, aber ich dachte, den Walter kann ich nicht schlagen. Er war für mich als Fußballfan ein Gott, und dann wurde er auch noch Weltmeister. Dann haben mir diese Affen …, ähh Entschuldigung, die Journalisten aber doch 1 000 Stimmen gegeben. Und ich habe recht deutlich gewonnen. Ich konnte das als 23-Jähriger kaum begreifen.

Was hat Fritz Walter dazu gesagt? Er hat es als fairer Sportsmann aufgenommen und mir gratuliert. Wir wurden anschließend sehr gute Freunde, gerade in den letzten Jahren, bis er gestorben ist.

Für deutsche Sportler war es nach dem zweiten Weltkrieg auf den internationalen Sportbühnen nicht immer einfach. Wie war Ihr Verhältnis zu den Konkurrenten? Mit denen hatte ich ein gutes Verhältnis. Ivan Mecic und ich sind zusammen im Februar 1955 mit 6,5 Sekunden über 60 Meter in Kiel Weltrekord gelaufen. Aber ich war etwas weiter vorne und habe daher gewonnen. Den Preis – eine goldene Armbanduhr – habe ich ihm mit den Worten „gib sie mir zu den Olympischen Spielen in Melbourne zurück“ überlassen. 1956 in Melbourne hab ich die Uhr dann wiederbekommen. Das war ein Zeichen wahrer Freundschaft. So etwas würde es bei den heutigen Preisgeldern nicht mehr geben.

Mussten Sie denn gar keine negativen Erfahrungen machen? (lacht) Eine Sache fällt mir doch ein. 1953 waren in Glasgow die Krönungsfestspiele für Queen Elizabeth II. Die Sieger sollten ihre Preise von der Königin überreicht bekommen. Ich habe die 100 Meter und die 200 Meter gewonnen. Zwei Lakaien haben mich dann zur königlichen Loge geführt. Ich musste aber drei Stufen vorher stehen bleiben, weil ich Deutscher war. Als mir ein Vertreter der Königin den Preis überreichte, bin ich ihm eine Stufe entgegengekommen. Die beiden Wächter haben mich gleich wieder zurückgezogen. Die Königin hat mir also die Hand verweigert, weil ich Deutscher war. Aber zu dieser Zeit interessierte mich alles mehr als Politik, daher fand ich das nicht so schlimm.

Von 1953 bis 1955 haben Sie kein einziges Rennen verloren. Entwickelt sich da eher Stolz oder Langeweile? Langeweile kommt keine auf. Auch wenn du 536 Rennen gewonnen hast, wird es nicht zur Gewohnheitssache. Es haben eher andere Probleme damit. Einmal hat ein Reporter von der Frankfurter Abendzeitung gesagt: „Herr Fütterer, Sie müssen mal wieder verlieren, damit ich wieder eine Überschrift habe.“ Meine Dominanz ist manchmal aber auch eine Belastung geworden. Die Leute haben nicht mehr gefragt, ob ich gewonnen habe, sondern welche Zeit ich gelaufen bin. Das hat mich richtig wütend gemacht.

Zu Beginn Ihrer Karriere sind Sie noch barfuß gelaufen. Wie sind Sie denn zu Ihrem ersten Paar Schuhe gekommen? Wir hatten damals ja nichts und sind daher halt so rumgerannt. Die Rennschuhe hatten mich dann auch nicht wegen der Leistung interessiert, sondern ich wollte ein Paar Schuhe mit Nägeln an der Sohle. Weil das etwas Tolles war. In Karlsruhe hatte eine Umtauschzentrale solche Stiefel. Ich habe dann meiner Schwester ein Kleid geklaut und es gegen die Schuhe eingetauscht. Die musste ich daheim natürlich verstecken.

Sie haben das Paar aber dennoch eingesetzt, oder? Ja, das habe ich natürlich, und die Schuhe haben perfekt gepasst – der Herrgott hatte da seine Hände im Spiel. 1950 habe ich dann die ersten Schuhe von Puma geschenkt bekommen. Ich trainierte damals unter Prof. Dr. Suhr. Er hat den Rudolf Dassler (Gründer von „Puma“, d. Red.) um ein Paar für seinen Schützling gebeten. Dassler hat die Schuhe auch sofort geschickt, mit den Worten: „Ist denn der Junge auch wirklich so ein Talent?“

Sie haben damals mit dem Sport kein Geld verdient? Nein. Es gab schon Preise, aber die waren bescheiden. Ich habe einmal drei Sportfeste in Folge gewonnen und jedes Mal einen Elektrorasierer bekommen. Um Geld zu sparen, sind wir zweiter Klasse gefahren oder haben mit dem Auto eine Fahrgemeinschaft gebildet …

… weil Sie neben dem Sport nicht auch noch arbeiten konnten? Doch, natürlich. Ich war kaufmännischer Angestellter in Karlsruhe. Ab 1954 habe ich dann aber mittags frei bekommen, um zu trainieren. Ich musste meine Leistung stabilisieren. Und das geht nur, wenn du unter verschiedenen Bedingungen trainierst. Außerdem stärkt das auch das eigene Selbstvertrauen, was ebenso entscheidend für Erfolg oder Misserfolg ist.

Am Sprint haben Sie den Kampf „Mann gegen Mann“ geliebt. Was hat Sie außerdem fasziniert? Zu gewinnen, das ist das Wichtigste. Aber auch die Erlebnisse: Es ist faszinierend, wenn in der Westfalenhalle   7 000 Zuschauer brüllen, es dann „ssssssst“ macht und ganz still wird … und der Starter an dir vorbeiläuft und sagt: „Ganz ruhig Heinz, ich schieß dich schon raus.“ Mir sind aber auch Sportler wie Lothar Knörzer, der in der Staffel dabei war, im Kopf geblieben. Bevor der nicht neben die Bahn gekotzt hatte, konnten wir nicht los. Das war eben sein Weg, mit der Anspannung umzugehen.

Nach ihrer Leichtathletikkarriere waren Sie auch Fußballtrainer. Wie kam es denn dazu? Da ich auf der Sportschule in Schöneck bis 1957 gelebt habe, konnte ich dort den B-Trainerschein machen. Anschließend hat es geheißen, dass ich doch auch den A-Schein machen solle, weil meine Vorträge so gut wären. Sepp Herberger, Helmut Schön und Hennes Weisweiler haben die praktische Prüfung abgenommen. Weil mich ein Hund in die Wade gebissen hatte, wollte mir der Herberger die Schussprüfung ersparen. Weisweiler bestand aber darauf. Also hab ich mich wortlos umgedreht, druff gerohrt, und der Ball ist im Winkel eingefahren. Herberger hat mir anschließend zugeflüstert: „Heinz, reg’ dich nicht auf, der ist ein Schwein und bleibt eins.“ Solche Sachen vergisst du nicht.

Apropos Fußball: Ihr Heimatverein, der Karlsruher SC, ist nun nach neunjähriger Abstinenz wieder erstklassig. Das stimmt, und es freut mich sehr. Ich habe mir bei der Ehrung zu meinem 75. Geburtstag gewünscht, dass der KSC in die Bundesliga aufsteigt. Und wenn ich 80 bin, werde ich mir wünschen,dass im Europacup-Endspiel der KSC auf den VfB Stuttgart trifft.

Herr Fütterer, was ist die schönste Geschichte Ihrer Karriere? Eine Sache wird mir immer am wichtigsten bleiben: Jesse Owens war mein großes Vorbild. Je näher ich seiner Zeit von 10,2 Sekunden gekommen bin, desto öfter habe ich an ihn gedacht. 1954 habe ich nach meinem Rekord ein Glückwunschtelegramm von Owens erhalten. Und zwei Jahre später – bei den Olympischen Spielen in Melbourne – kam er dann zu mir, beglückwünschte mich und sagte, dass er meine Karriere verfolge. Das ist die Geschichte meiner Laufbahn, die mir bis heute unglaublich viel bedeutet.

Bereuen Sie etwas? Ja, und zwar verstehe ich es heute noch nicht, dass ich mir nach den 10,2 Sekunden nicht noch die 10,1 Sekunden als Ziel gesetzt habe. Davor hatte ich immer ein Ziel vor Augen. Das ist ja auch das Einfachste, um etwas zu schaffen. Herrgott! Ich habe das einfach nicht realisiert. Und mein Trainer auch nicht. Vielleicht waren wir alle einfach zu blöd. Heute ist man ja rekordgeil und enttäuscht, wenn einmal kein Rekord fällt. Aber bei uns war das noch nicht so.

Schaffen es deutsche Sprinter mal wieder in die Weltspitze? Nein, ich glaube nicht. Wir haben immer mal wieder talentierte Leute. Wenn diese aber nicht so oft rennen wollen, wie es nur möglich ist, dann haben sie schon nicht die richtige Einstellung. Der Unger (Tobias Unger, 200 Meter Halleneuropameister, d. Red.) ist ja bei uns die Nummer eins, aber ich sehe ihn zu wenig. Vor der WM in Helsinki hatte ich ihm im Vorhinein noch ein Fax geschickt und ihm viel Erfolg gewünscht. Ein Sprinter muss von sich aus explodieren – und da gehört die persönliche Einstellung dazu. Die heutigen Sprinter sollten nicht so sehr auf ihre Trainer, Manager oder Therapeuten hören, sondern eher ihren eigenen Weg gehen.

Herr Fütterer, vielen Dank für das Gespräch. Ach ja, und wir versuchen, gute Affen zu werden. Ja, ja, (lacht und klopft uns auf die Schulter) werdet gute Affen.

Fragen von Lukas Eberle & Fabian Schmidt
veröffentlicht im Magazin SportSirene (1, Januar 2008)

Heinrich Ludwig („Heinz“) Fütterer wurde am 14. Oktober 1931 in Illingen im Landkreis Rastatt geboren. Der „weiße Blitz“, wie er heute noch genannt wird, lief dreimal Weltrekord (100 Meter, 60 Meter, 4 x 100-Meter-Staffel). Nach seinem Weltrekord über 100 Meter in Yokohama (10,2 Sekunden) wählten die deutschen Journalisten ihn 1954 zum „Sportler des Jahres“. Der damals 23-Jährige verwies die Wunder-von-Bern-Weltmeister Fritz Walter und Sepp Herberger auf die Plätze. Außerdem wurde Fütterer dreimal Europameister und gewann 1956 bei den Olympischen Spielen in Melbourne die Bronzemedaille über 200 Meter. Insgesamt erzielte Heinz Fütterer 536 internationale Siege und blieb in den Jahren 1953 bis 1955 ungeschlagen. Nach seiner sportlichen Karriere arbeitete der für den SV Germania Bietigheim sowie den Karlsruher SC startende Badener bei Puma. Heute wohnt Heinz Fütterer mit seiner zweiten Frau im Olympiaweg in Elchesheim-Illingen. Im dortigen Heimatmuseum ist dem „weißen Blitz“ eine eigene Ausstellung mit Fotos, Pokalen und Urkunden gewidmet.




Oma kegelt virtuell _Update im Altenheim

25 07 2009

Else Schorr drückt sich vom Stuhl ab. Sie läuft zielstrebig über den Linoleum-Boden des Münchner Altenheims St. Josef. Ihr Blick fokussiert das weiße Steuergerät. Dann ergreift die 94-Jährige den Controller, und was jetzt passiert, gleicht der Verwandlung von Popeye nach dem Spinatkonsum. „Vorsicht, die wilde Hilde“, feixt eine andere Seniorin und lehnt sich schützend zurück. Else Schorr guckt auf den großen Fernseher, sagt fest entschlossen „Du gehörst jetzt mir“, holt explosiv aus und schwingt das Kontrollgerät nach vorn. Zehn so genannte Silver Gamer blicken der Bowling-Kugel auf dem TV-Bildschirm nach, sehen, wie der letzte Pin fällt. Applaus, Schorr grinst und erzählt von der Vorfreude ihres Urenkels, mit ihr zusammen zu spielen.

Immer mehr Senioren erfreuen sich an den Konsolen – und das nicht nur zum Spaß. Mediziner sprechen Computerspielen auch eine therapeutische Wirkung zu.

Im Haus St. Josef trifft sich die Gruppe seit über einem Jahr, um alle zwei Wochen Bowling auf der Konsole „Wii“ zu spielen. Im Februar 2008 hatte die Einrichtung die erste virtuelle Münchner Bowling-Seniorenmeisterschaft und damit eine Spielkonsole gewonnen. Nach ein paar Monaten hat die ehrenamtliche Mitarbeiterin Blandina Pohle schließlich das regelmäßige Treffen eingeführt. „Die Leute waren so begeistert, dass wir die angesetzten 60 Minuten auf anderthalb Stunden ausgedehnt haben“, sagt die gelernte Großhandelskauffrau. Die Gruppe sei wie eine Clique, nach einiger Zeit warfen sich die Teilnehmer witzige Sprüche an den Kopf.

Zwei Sozialpädagogik-Studenten der Hochschule München haben das Bowling-Turnier ins Leben gerufen, auch schon eine Deutsche Meisterschaft mit Altenheimen aus mehreren großen Städten veranstaltet. Josef Kiener ist einer davon, er vergleicht das virtuelle Bowling-Spiel mit Sport: „Damit werden geistige und motorische Fähigkeiten aktiviert, reaktiviert und gefördert.“ Er und sein Kollege veranstalten derzeit die zweite Ausgabe des nationalen Wettstreits.

Amerikanische Therapeuten sprechen den Konsolen bereits einen  Rehabilitationseffekt zu, nennen das „Wiihabilitation“. Neben Sportspielen liegen auch Gesellschafts- und Hirntrainingsspiele im Trend. In Deutschland besaßen 2008 laut einer im März dieses Jahres erschienen Studie des Statistischen Bundesamtes knapp 7,5 Millionen Privat-Haushalte eine Spielkonsole.  Darunter fast 290.000 Senioren, bei PCs über 4,4 Millionen. Die Umsätze mit Videospielen haben in Deutschland 2008 zudem ein Rekordniveau erreicht.

Die Branche verdankt diesen Aufschwung laut dem Marktforschungsunternehmen Media Control GfK neuartigen Spielkonzepten. Außerdem würden neue Zielgruppen erfolgreich erschlossen. Hersteller wie Nintendo, Microsoft oder Sony entwerfen aber nicht explizit Spiele für Silver Gamer. Ebenso wenig planen Spiele-Entwickler ausschließliche Seniorenangebote. Dennoch ist die Generation „60plus“ Teil der Zielgruppe, denn Hersteller entwickeln zunehmend Spiele für die gesamte Familie, Oma und Opa inklusive.

Die GfK berichtete auf der Messe „Munich Gaming 2009“, dass Silver Gamer eher bereit seien, mehr für Computerspiele zu zahlen als vor zehn Jahren. Innerhalb der Medienausgaben habe der Computerspiel-Kauf von einem auf vier Prozent zugenommen. Auch die Zukunftsprognosen deuten auf einen Anstieg hin. Laut dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien, kurz Bitkom, werden die heute 45-Jährigen die digitale Unterhaltung mit 60 ganz anders nutzen. Sie sind mit einem Computer aufgewachsen, der Umgang sei daher natürlich.

Nicht wie im Altenheim

Wie selbstverständlich wirkt die „Wii“-Fernbedienung auch für die 87-jährige Emma Dallinger im Seniorenheim St. Josef. Sie hat zum Münchner Turniersieg beigetragen und seither einen großen Ehrgeiz entwickelt. „Das Schönste ist, dass man sich gegenseitig kennen lernt“, sagt sie nach ihrem Wurf. Nach ihr ist Irene Logdeser, Jahrgang 1927, an der Reihe. Sie sitzt im Rollstuhl, wirft an diesem Vormittag den ersten Strike und sagt mit einem Lächeln: „Man merkt hier gar nicht, dass wir im Altenheim sind.“ Das zeigen auch die teils explosiven und sportlichen Bewegungen – eine Art zusätzliche Gymnastikeinheit im Heimalltag.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bewertet das Thema Spielkonsolen in Pflegeheimen grundsätzlich positiv, ist informativ darin eingebunden. Professor Hans Georg Nehen, Leiter der geriatrischen Klinik des Essener Elisabeth-Krankenhauses ist einen Schritt weiter, forscht seit kurzem an einem Nachweis, dass Spielkonsolen nicht nur zum Spaß sondern auch zu Therapiezwecken dienen können. „Die fluide Intelligenz, also geistig wendig zu sein und schnell etwas Neues zu lernen, nimmt im Alter ab, und da kann eine Konsole helfen“, sagt Nehen, „außerdem steigern Spiele die Lust an der Bewegung und fördern demnach die Mobilität.“ Sein Ziel ist es, zu zeigen, dass virtuelle Spiele körperlich und geistig helfen können. Auch eine Kooperation mit den Krankenkassen schwebt ihm vor.

Der Münchner Sozialpädagoge Claus Fussek war zunächst skeptisch, befürchtete, dass solche Spielformen Bettlägerige benachteiligen, nicht alle Heimbewohner einschließen. Erst kürzlich habe er sich als Jurymitglied für kreative Pflegevorschläge bei der Konsole zurückgehalten, die Idee hat dennoch gewonnen. „Das scheint jetzt der absolute Renner zu sein“, sagt Fussek, „und eigentlich ist es doch für alle geeignet. Außerdem können die Pflegeheime auch gegeneinander antreten und Besucher mitspielen.“

Trotz des Spaßes müssen die Senioren auch aufpassen. Wer zu viel zockt, kann rheumatische Schmerzen bekommen, an „Wiitis“ erkranken.

Karl Sturm, in der Bowling-Runde von St. Josef erstmals dabei, hat gleich bei seinem Debüt einmal abgeräumt. Jetzt schmerzt der Rücken des 82-Jährigen, den neumodischen Begriff aus Amerika kennt er wohl nicht. Trotz des Leidens verspricht Sturm: „Es hat viel Spaß gemacht, ich komme wieder.“

DJS-Text (Feature-Ausbildung bei Chris Bleher); veröffentlicht in der SZ (28. August 2009)





Haut am Haken _Wenn sich Menschen an Fischerhaken aufhängen

25 07 2009

Die Sache hat zwei Haken. Einen links, einen rechts. Dazwischen spannen sich zehn Zentimeter lange Hautlappen, grinst ein Totenkopf. Darunter zappelt ein Körper, Phils Körper. Er strampelt mit seinen Beinen. Der Rücken hängt an zwei roten Seilen – gehalten von den Haken, die wie eine Heftklammer in der Haut stecken. Phil pendelt in der großen Halle des Berliner Swinger-Clubs Insomnia, den Kopf auf der Brust, die Augen geschlossen. Er wirkt zufrieden, ist in Trance. Im nächsten Moment zieht er sich an einem der Seile hoch, durchtrennt es mit einer Klinge, lässt los. Der Körper fällt, die Haut hält. Phil schwebt nur noch an einem Haken, die 100 Partygäste staunen, eine Bardame verzieht das Gesicht. Währenddessen umklammert Hellka Phils Körper, schwingt ihn an – wie ein Kind auf einer Schaukel. Beide schweben zu indianischer Musik durch den Raum. Jetzt zerschneidet Phil das zweite Seil, fällt zu Boden, schließt die Augen, genießt den Applaus. Phil und Hellka sind im Superfly-Team. Die Berliner Gruppe führt regelmäßig solche Shows auf, der Amerikaner Chandler Barnes ist ihr Gründer. In der Szene wird jeder auf Anhieb geduzt.

Der Akt heißt Suspension, in diesem Fall Suicide-Suspension, Selbstmord-Aufhängung. Aber es stirbt niemand dabei. Nur das Bild ähnelt einer Person, die sich erhängt hat. Suspension ist eine Form der Body Modification, des Körperkults. Sie ist in der Tattoo- und Piercing-Szene wieder aufgelebt, ist aber viel älter. Amerikanische Ureinwohner und Hindus büßten damit ihre Sünden, suchten Visionen, vollzogen Heilrituale, göttliche Andachten. Wer sich heute aufhängen lässt, den treiben selten religiöse Gründe. Es geht vor allem darum, seinen Körper zu erfahren.

Erst muss man die Angst überwinden, dann folgt Schmerz. Durch den Stress werden die Hormone Adrenalin und Beta-Endorphin ausgeschüttet, ein Glücksgefühl entsteht. Das Ergebnis ist ein den Schmerz erlösender Zustand. Chandler nennt ihn Erleuchtung. „Du kannst jemandem auch 20 Mal in die Eier hauen. Ich schaffe das aber mit einem Haken in zwei Sekunden“, sagt er, „die Leute grinsen noch während sie hängen.“ Es gehe dabei aber nicht um einen sexuellen Hintergrund, sondern hauptsächlich um die Erleichterung, wenn der Schmerz abnimmt.

Auch wenn das Motto der heutigen Party „Temple of Freaks“ lautet, sagt der Amerikaner: „Wir sind keine Freaks.“ Er wuchs in Richmond im Bundesstaat Virginia auf, stach sich sein erstes Tattoo mit 15 selbst, besuchte 1999 einen Freund in Berlin und blieb in Deutschland. Die vordere Hälfte seines Kopfes ist rasiert, am hinteren Teil baumeln hüftlange Dreadlocks. Der 32-Jährige ist am gesamten Körper tätowiert, an den ausgeleierten Ohrläppchen hängt hornförmiger Schmuck. Andere tragen unter der Lippe einen Bart, Chandler hat dort ein Loch, in dem ein Gummipfropfen steckt. Auf der rechten Gesichtshälfte sind zwei Längs- und zwei Querstreifen eingebrannt.

2003 lernte er Suspension in Frankreich kennen, war sofort begeistert, kehrte mit viel Videomaterial zurück und gründete das Superfly-Team. Mittlerweile sind um die zehn Vorführer in der Gruppe. Seitdem treten Chandler und seine Freunde regelmäßig auf. Heute sind er, Phil, Flo und Hellka dabei. Wenn es wärmer ist, treffen sie sich auch zu privaten Suspensions im Wald. „Die Auftritte machen viel Spaß, aber dennoch sind sie eher Arbeit und die Privatsessions das Vergnügen“, sagt Chandler, der sich bisher 35 Mal aufgehängt hat. Er liebt es. „Es war auch schon so, als hätte ich von außen auf meinen Körper geschaut.“ Jeder könne andere aufhängen, aber nur bei wenigen sehe es gut aus. „Suspension ist beste Ästhetik, lebende Kunst“, sagt Chandler. Es geht um Vertrauen, um den Moment, nicht um ein Produkt zum Mitnehmen. „Ich bin kein Hippie, ich stehe nicht auf Steine“, entgegnet er, wenn man ihn für esoterisch hält.

Phil sagt an diesem Abend nur eines: „Du musst es für dich selber tun, nicht für andere.“ Die anderen reagieren unterschiedlich. Flos Eltern finden es nicht toll, Chandlers in Ordnung. „Dennoch weint Mom manchmal, wenn ich ihr davon erzähle“, sagt er.

Tattoos schmerzen mehr

Mittlerweile ist Phil mit Flo an Knien und Unterarmen per Haken und Seil verbunden. Flo schließt die Augen, atmet tief durch. Ein wenig Blut rinnt aus den Einstichpunkten. Sein Körper hebt langsam vom Boden ab, er grinst, redet mit Phil. Der ist weiter in Trance. Wenig später zucken zwei an Haken und Seilen hängende Menschen – einer davon kopfüber – im Musikrhythmus durch den Swinger-Club.

„Es brennt und ist übelst warm“, sagt Flo, „und es zieht, wie Schröpfen in gesteigerter Form.“ Das Stechen eines Tattoos schmerzt mehr, sagt Chandler. „Beim ersten Mal kapierst du es gar nicht. Man kann es mit der ersten Zigarette vergleichen“, fährt er fort. „Die schmeckt scheiße, aber du willst noch eine“, fügt Flo an. Chandler betont, dass er vor allem auf den Adrenalinkick steht, weniger auf die Schmerzen.

Erich Kasten ist Professor am Institut für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Lübeck und hat die Body-Modification-Szene zwei Jahre lang untersucht. Er spricht am Telefon so schnell, dass es schwer fällt, ihm zu folgen und mitzuschreiben. Kasten vergleicht Suspension mit einer Droge. Der Protagonist steht dabei im Mittelpunkt. „Die Leute suchen Extremerfahrungen, wir nennen das Sensation-Seeking, mit denen sie vor Freunden glänzen können“, sagt Kasten, „das Überwinden der Angst wertet zudem das Selbstbewusstsein auf.“ Suspension berge aber Risiken, Gewebe kann reißen. Während dem Hängen sammelt sich unter der Haut Luft. Dadurch können Keime eindringen und laut Kasten drohen so schlimme Entzündungen. „Die Leute wollen diese Risiken wegen des Kicks aber nicht sehen“, sagt Kasten. Das sei wie bei einigen extremen Hobbys. Er fährt beispielsweise Motorrad. Andere hängen sich auf.

Schlimme Entzündungen hatten sie noch keine, sagen Flo und Chandler. Gerissen seien die Haken aber schon mehrmals. „Wir probieren die Figuren immer erst privat aus“, sagt Chandler, „da ist es nicht schlimm, wenn etwas passiert.“ Erst nach dem Test dürfen Interessenten ran, die Suspension einmal ausprobieren wollen. Die Hautrisse sind aber nicht weiter schlimm, problematisch sind Muskel- oder Sehnenverletzungen. Das Superfly-Team darf die Haken daher nicht zu tief einstechen. Wenn sich ein Neuer der Herausforderung stellt, herrscht eine klare Rollenverteilung in der Gruppe. Einer präpariert das Material – Seile, Haken, Flaschenzüge, Schlösser, Handtücher, Desinfektionsmittel. Einer zieht am Seil, einer sorgt sich um den Anfänger. „Er soll sich nicht alleine fühlen. Daher sprechen wir mit ihm“, erklärt Chandler. Kollege Flo arbeitet als Krankenpfleger in der Notaufnahme, kann medizinische Hilfe leisten.

Suspender stammen aus allen Bevölkerungsschichten, ihnen ist ihr Leben zu langweilig, sagt Chandler, sie suchen einen Kick. Im Schnitt sind sie eher männlich und Mitte 20. Frauen steckten den Schmerz besser weg als Männer. Besonders geeignet seien Mütter und Yoga-Anhänger. „Die wissen, wie man mit Schmerz umgeht und richtig atmet“, sagt Chandler. Außerdem muss das Klima zwischen Team und Interessenten stimmen. „Wir machen es nicht bei jedem.“ Professionalität ist ihm wichtig, daher muss der Neuling auch eine Einverständniserklärung unterschreiben. „Ich arbeite schließlich jeden Tag mit Körperverletzung“, sagt der hauptberufliche Piercer und Tätowierer.

Der jüngste Interessent war 18, der älteste 62. Prinzipiell ist jeder geeignet, bei straffer Haut sei Suspension schwieriger. Chandler desinfiziert die Haut, hebt sie an, steckt die Haken durch. Das Gewicht sollte sich gut auf die Halterungen verteilen. Anfänger starten in der Regel mit mehreren Haken. Flo vergleicht das Debüt mit einem Sprung vom Zehn-Meter-Turm: „Man sollte nicht zu sehr zögern. Entweder du springst gleich oder du lässt es.“ Übertragen bedeutet das: Sind die Haken einmal eingesetzt, sollte man sich schnell hochziehen lassen – am besten die Beine aktiv vom Boden heben. „Es ist scheißschwer, wie der Führerschein“, sagt Chandler, „manchmal braucht man zwei oder drei Versuche. Aber du musst es von dir aus machen.“

An Gefühle erinnern

Die verschiedenen Formen der Suspension bewirken unterschiedliche Gefühle. Die Suicide-Figur ist eine der einfacheren, sie eignet sich für Vorführungen, weil sich die hängende Person gut bewegen kann. Die Superman-Suspension ist die anspruchsloseste Variante. Dabei stecken die Haken in Rücken und Beinen, der Körper schwebt horizontal. O-Kee-Pa ist die schmerzhafteste Form. Die Brust hängt an zwei Haken, das Atmen fällt schwer. Kommen weitere Haken an den Beinen hinzu, nennt sich das Koma-Suspension.

Bis zu einer halben Stunde schweben die Suspender. Flo und Phil hängen heute von 1.50 Uhr bis 2.03 Uhr. Beim Warum tun sich die Protagonisten schwer, sagt Psychologe Kasten. Chandler antwortet: „Darum. Weil ich es kann. Die Leute haben vergessen, wie es ist, den Körper zu fühlen. Durch Piercings und Suspension weiß man: Ich bin da.“

Heute hat er nur den Piercer gespielt, Phil und Flo aufgehängt. Beim Einlaufen glich der 32-Jährige einem Fleischermeister, Haken baumelten am Hosenbund. Er motivierte die Zuschauer, organisierte die Aufführung. Der erste Schockeffekt war kaum verflogen, da schob Chandler Phil durch den Raum und sprang auch noch auf das menschliche Pendel auf. „Am geilsten ist es, wenn ich nicht nur Suspension mache, sondern Mucke läuft, Leute feiern und wir länger draußen sind“, sagt er, „dann ist es wie in einer Familie.“ Sie leben bei den privaten Treffen ihre Kreativität aus, erfinden neue Formen, sonst wird es langweilig. „Zu populär sollte Suspension aber nicht werden“, sagt Flo. Daher macht das Team keine Werbung.

Vor fünf Jahren hat Chandler ein Sommercamp veranstaltet, das will er dieses Jahr wiederholen. „Dann aber mit weniger Leuten, wir wollen wieder zurück zu den Wurzeln.“ Einzigartig wollen sie also bleiben. Im Zentrum stehe ja schließlich die Lust auf die körpereigenen Drogen, nicht der Massenkult.

Nach dem Auftritt blutet Phils Unterarm, umgehend verschwindet das komplette Superfly-Team backstage. Zurück mit einem Verband geht die Party weiter. Chandler raucht, trinkt Whiskey und knutscht mit Freundin Hellka.

Sie fühlen sich wohl in ihrer Haut.

DJS-Text (Reportage-Ausbildung bei Holger Gertz); veröffentlicht in der taz (17. August 2009; auch online)





Bayern zeigen Herz

25 07 2009

Das war ne gute Show heute. Das Benefiz-Spiel zwischen Bayern München und Oli Pochers Team war zwar die übelste Übertrieben-Show, Spaß hat’s dennoch gebracht.

Und das Bemerkenswerteste ist eigentlich die Tatsache, dass der FC Bayern mitgemacht hat. Es ist ja durchaus ein Risiko, denn die Bayern können ja nur verlieren. Sicherlich hat der karitative Zweck in Sachen „Ein Herz für Kinder“ seine PR-Funktion, aber neben dem Verletzungsrisiko bei einem Spiel gegen Amateure würde vor allem nur ein einziges Gegentur die Münchner zum Gespött machen.

Nun hat unterm Strich ja alles gepasst. Die Bayern haben 13:0 gewonnen, Pochers Team hatte dennoch Spaß, die Kinder haben von Spenden profitiert und Sat.1 konnte ordentlich Promo für ran machen.

Und die Lust auf die Bundesliga ist auch wieder da. Die Bayern machen einen guten Eindruck. Besonders die ersten 20 Minuten gegen Köln am Freitag waren beeindruckend, extrem temporeich.





Mein Beiträgle zum web 2.0

25 07 2009

Hallo Leute,

wenn du in der Medien-Branche unterwegs bist, hörst du andauernd von twittern, bloggen, facebooken, flickrn usw. Jeder Dozent in der Journalistenschule, jeder Gast aus Fern, Funk und Print weist uns auf die Bedeutung der Online-Medien hin. Timm Klotzek von der Neon meinte letztens, dass genau das unsere Chance ist.

Mit Lukas habe ich mir im Oktober schon mal vorgenommen, einen Blog zu starten. Die Idee war grandios, richtig hingekriegt haben wir es dennoch nicht. Er hatte letztens den guten Vorschlag, seine Texte von der Journalistenschule nach und nach unter auf-der-tribuene-brennt-noch-licht.de zu veröffentlichen.

Außerdem hat mir mein Kumpel Daniel (neubauer-daniel.de) wärmstens ein Blog ans Herz gelegt. Als Media Designer hat er definitiv mehr Ahnung als ich vom modernen Schnickschnak.

Von daher soll es nun wohl soweit sein, dass auch das mit dem bloggen mal versuche.

Sportlich muss es bei mir zwar zugehen. Ich versuche aber, auch über andere Themen zu schreiben.  Mal gucken, was raus kommt.

Ich werde dazu auch die DJS-Texte reinstellen und was sonst noch so aus meinen Fingerspitzen auf die Tastatur übertragen und teils veröffentlicht wurde.

In diesem Sinne hoffe ich, dass die Mischung interessant ist und eure Surfzeit nicht nur Verschwendung.

Servus, Fabian