Oma kegelt virtuell _Update im Altenheim

25 07 2009

Else Schorr drückt sich vom Stuhl ab. Sie läuft zielstrebig über den Linoleum-Boden des Münchner Altenheims St. Josef. Ihr Blick fokussiert das weiße Steuergerät. Dann ergreift die 94-Jährige den Controller, und was jetzt passiert, gleicht der Verwandlung von Popeye nach dem Spinatkonsum. „Vorsicht, die wilde Hilde“, feixt eine andere Seniorin und lehnt sich schützend zurück. Else Schorr guckt auf den großen Fernseher, sagt fest entschlossen „Du gehörst jetzt mir“, holt explosiv aus und schwingt das Kontrollgerät nach vorn. Zehn so genannte Silver Gamer blicken der Bowling-Kugel auf dem TV-Bildschirm nach, sehen, wie der letzte Pin fällt. Applaus, Schorr grinst und erzählt von der Vorfreude ihres Urenkels, mit ihr zusammen zu spielen.

Immer mehr Senioren erfreuen sich an den Konsolen – und das nicht nur zum Spaß. Mediziner sprechen Computerspielen auch eine therapeutische Wirkung zu.

Im Haus St. Josef trifft sich die Gruppe seit über einem Jahr, um alle zwei Wochen Bowling auf der Konsole „Wii“ zu spielen. Im Februar 2008 hatte die Einrichtung die erste virtuelle Münchner Bowling-Seniorenmeisterschaft und damit eine Spielkonsole gewonnen. Nach ein paar Monaten hat die ehrenamtliche Mitarbeiterin Blandina Pohle schließlich das regelmäßige Treffen eingeführt. „Die Leute waren so begeistert, dass wir die angesetzten 60 Minuten auf anderthalb Stunden ausgedehnt haben“, sagt die gelernte Großhandelskauffrau. Die Gruppe sei wie eine Clique, nach einiger Zeit warfen sich die Teilnehmer witzige Sprüche an den Kopf.

Zwei Sozialpädagogik-Studenten der Hochschule München haben das Bowling-Turnier ins Leben gerufen, auch schon eine Deutsche Meisterschaft mit Altenheimen aus mehreren großen Städten veranstaltet. Josef Kiener ist einer davon, er vergleicht das virtuelle Bowling-Spiel mit Sport: „Damit werden geistige und motorische Fähigkeiten aktiviert, reaktiviert und gefördert.“ Er und sein Kollege veranstalten derzeit die zweite Ausgabe des nationalen Wettstreits.

Amerikanische Therapeuten sprechen den Konsolen bereits einen  Rehabilitationseffekt zu, nennen das „Wiihabilitation“. Neben Sportspielen liegen auch Gesellschafts- und Hirntrainingsspiele im Trend. In Deutschland besaßen 2008 laut einer im März dieses Jahres erschienen Studie des Statistischen Bundesamtes knapp 7,5 Millionen Privat-Haushalte eine Spielkonsole.  Darunter fast 290.000 Senioren, bei PCs über 4,4 Millionen. Die Umsätze mit Videospielen haben in Deutschland 2008 zudem ein Rekordniveau erreicht.

Die Branche verdankt diesen Aufschwung laut dem Marktforschungsunternehmen Media Control GfK neuartigen Spielkonzepten. Außerdem würden neue Zielgruppen erfolgreich erschlossen. Hersteller wie Nintendo, Microsoft oder Sony entwerfen aber nicht explizit Spiele für Silver Gamer. Ebenso wenig planen Spiele-Entwickler ausschließliche Seniorenangebote. Dennoch ist die Generation „60plus“ Teil der Zielgruppe, denn Hersteller entwickeln zunehmend Spiele für die gesamte Familie, Oma und Opa inklusive.

Die GfK berichtete auf der Messe „Munich Gaming 2009“, dass Silver Gamer eher bereit seien, mehr für Computerspiele zu zahlen als vor zehn Jahren. Innerhalb der Medienausgaben habe der Computerspiel-Kauf von einem auf vier Prozent zugenommen. Auch die Zukunftsprognosen deuten auf einen Anstieg hin. Laut dem Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien, kurz Bitkom, werden die heute 45-Jährigen die digitale Unterhaltung mit 60 ganz anders nutzen. Sie sind mit einem Computer aufgewachsen, der Umgang sei daher natürlich.

Nicht wie im Altenheim

Wie selbstverständlich wirkt die „Wii“-Fernbedienung auch für die 87-jährige Emma Dallinger im Seniorenheim St. Josef. Sie hat zum Münchner Turniersieg beigetragen und seither einen großen Ehrgeiz entwickelt. „Das Schönste ist, dass man sich gegenseitig kennen lernt“, sagt sie nach ihrem Wurf. Nach ihr ist Irene Logdeser, Jahrgang 1927, an der Reihe. Sie sitzt im Rollstuhl, wirft an diesem Vormittag den ersten Strike und sagt mit einem Lächeln: „Man merkt hier gar nicht, dass wir im Altenheim sind.“ Das zeigen auch die teils explosiven und sportlichen Bewegungen – eine Art zusätzliche Gymnastikeinheit im Heimalltag.

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bewertet das Thema Spielkonsolen in Pflegeheimen grundsätzlich positiv, ist informativ darin eingebunden. Professor Hans Georg Nehen, Leiter der geriatrischen Klinik des Essener Elisabeth-Krankenhauses ist einen Schritt weiter, forscht seit kurzem an einem Nachweis, dass Spielkonsolen nicht nur zum Spaß sondern auch zu Therapiezwecken dienen können. „Die fluide Intelligenz, also geistig wendig zu sein und schnell etwas Neues zu lernen, nimmt im Alter ab, und da kann eine Konsole helfen“, sagt Nehen, „außerdem steigern Spiele die Lust an der Bewegung und fördern demnach die Mobilität.“ Sein Ziel ist es, zu zeigen, dass virtuelle Spiele körperlich und geistig helfen können. Auch eine Kooperation mit den Krankenkassen schwebt ihm vor.

Der Münchner Sozialpädagoge Claus Fussek war zunächst skeptisch, befürchtete, dass solche Spielformen Bettlägerige benachteiligen, nicht alle Heimbewohner einschließen. Erst kürzlich habe er sich als Jurymitglied für kreative Pflegevorschläge bei der Konsole zurückgehalten, die Idee hat dennoch gewonnen. „Das scheint jetzt der absolute Renner zu sein“, sagt Fussek, „und eigentlich ist es doch für alle geeignet. Außerdem können die Pflegeheime auch gegeneinander antreten und Besucher mitspielen.“

Trotz des Spaßes müssen die Senioren auch aufpassen. Wer zu viel zockt, kann rheumatische Schmerzen bekommen, an „Wiitis“ erkranken.

Karl Sturm, in der Bowling-Runde von St. Josef erstmals dabei, hat gleich bei seinem Debüt einmal abgeräumt. Jetzt schmerzt der Rücken des 82-Jährigen, den neumodischen Begriff aus Amerika kennt er wohl nicht. Trotz des Leidens verspricht Sturm: „Es hat viel Spaß gemacht, ich komme wieder.“

DJS-Text (Feature-Ausbildung bei Chris Bleher); veröffentlicht in der SZ (28. August 2009)